Die Kirche San Martino in Calonico
(Nur für Calonico Begeisterten !)
Der Ursprung der Kirche von San Martino in Calonico ist im Laufe der Zeit verloren gegangen! Eine Legende, die Alina Borioli (1887-1965) in ihrem 1926 erstmals erschienenen Buch "La vecchia Leventina" erzählt, wird vielleicht nicht helfen, die Geschichte des Ortes wieder ans Licht zu bringen, aber zumindest ein Lächeln auf unsere Gesichter zaubern:
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Die Einwohner von Calonico (Calonichesi) wollten eine Kirche bauen und sie dem heiligen Martin weihen. Deshalb hatten sie auf einem Grundstück in der Mitte des Dorfes, auf das sie sich geeinigt hatten, eine Menge Material vorbereitet. Doch eines schönen Morgens fanden sie ihr Material auf mysteriöse Weise westlich des Dorfes auf einem Hügel, der das gesamte mittlere Tal überblickte.
Mit grossem Erstaunen und nicht minderer Anstrengung machten sich die Calonichesi daran, das Material an den vorherigen Standort zurückzubringen, da sie der Meinung waren, dass der Hügel leicht einstürzen könnte. Und wieder fanden sie eines Morgens die Steine auf dem Hügel. Sie erkannten, dass es der heilige Martin selbst war, der sie auf wundersame Weise transportiert hatte, und schlossen daraus, dass ihr Schutzpatron keine Angst vor Erdrutschen hatte und seine Kirche zum Schutz des Dorfes dort errichtet haben wollte. Die Kirche wurde auf dem Hügel erbaut und gehört mit der von Altanca und Catto zu den malerischsten im Leventina-Tal.
Doch bevor wir auf die Kirche San Martino di Calonico zu sprechen kommen, wollen wir einen kurzen Blick zurück in die Geschichte werfen.
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Im Jahr 196 v. Chr. besetzten die Römer das Tessin bis zu den "Campi canini" (ein Gebiet, das dem Riviera-Tal entspricht) und ab dem Jahr 15 v. Chr. kann das gesamte Tessin als römisch angesehen werden (siehe auch "Geschichte und Archäologie", Funde auf der Parzelle 378 in Calonico - Castello). Das Weströmische Reich fiel im Jahr 476 n. Chr., als Odoaker als Vertreter des Oströmischen Reiches die Macht übernahm. Auf Odoaker folgten in der Lombardei in Jahr 493 n.Chr. die Ostgoten, 553 n.Chr. Byzanz, 568 n.Chr. die Langobarden und 774 n.Chr. die Franken bis 887 n.Chr. Die darauffolgende Periode ist als "feudale Anarchie" bekannt, was eine Phase des Zerfalls der zentralen Macht ausdrückt, in der verschiedene Herrscher aufeinander folgten, bis zum Aufkommen der kommunaler Autonomie Anfang der 1000er Jahre.
In dieser Zeit des Herrscherwechsels wird die Leventina zum ersten Mal in offiziellen Dokumenten erwähnt, und zwar genauer gesagt im Testament des Attone von Vercelli aus dem Jahr 948 n. Chr., der seine Güter aus einer königlichen Schenkung an seine Vorfahren lombardischer Abstammung erhalten zu haben scheint. Er schenkte die drei Täler Leventina, Blenio und Riviera dem Domkapitel von Mailand, dem Kollegium der Kanoniker, das für die Durchführung der liturgischen Aufgaben des Mailänder Doms zuständig war. Von diesem Zeitpunkt an, mit einigen kurzen Unterbrechungen im 12., 13. und 14. Jahrhunderts, als die Leventina von den germanischen Kaisern des Heiligen Römischen Reiches beherrscht wurde, übte das Kapitel bis 1403 ununterbrochen die zivile und kirchliche Gerichtsbarkeit über das Tal aus. Das 15. Jahrhundert war durch wechselnde Phasen der Herrschaft von Uri oder des Mailänder Kapitels gekennzeichnet, bis zur Schlacht von Giornico im Jahr 1478, die die Herrschaft von Uri bestätigte (siehe "Geschichte und Archäologie"). Ab 1400 wurden die weltlichen Befugnisse des Kapitels immer weiter eingeschränkt, bis es 1550 nur noch die Kollation der Pfarrpfründe (= das Recht, einem Pfarrer die Pfründe zu verleihen) innehatte. Die geistliche Macht ging an den Erzbischof von Mailand und die weltliche Macht an Uri.
Calonico wird erstmals 1227 als "Callonego" in der Teilungsurkunde der Leventina-Alpen erwähnt, und aus dieser Zeit stammen auch die mit dem C14 datierten Knochen im Castello-Gebiet von Calonico (10.-13. Jahrhundert, siehe "Geschichte und Archäologie"). Die erste Erwähnung der Kirche San Martino findet sich im "Liber notitiae sanctorum mediolani" ("In loco canonico, ecclesia sancti Martini"), das eine Liste der Kirchen und Altäre des Mailänder Bistums enthält und von Goffredo da Bussero gegen Ende des 13. Jahrhunderten verfasst wurde.
Die erste Erwähnung der Kirche San Martino in einem Pergament der Degagna ("Nachbarschaftverband", siehe "Geschichte und Archäologie") von Calonico stammt vom 21. Dezember 1316, in dem die Getreideabgaben an die "calonica dei poveri" (=Armenpfarramt) der Kirche San Martino aufgeführt sind. Das "Armenpfarramt" war eine Form der Unterstützung, die sich auf die örtliche Kirche konzentrierte, die einen Teil ihres Einkommens für die Unterstützung der Armen zur Verfügung stellte.
Die Kirche San Martino wird noch in den Jahren 1356, 1478, 1541 erwähnt, als sie versöhnt, d. h. in die Gnade Gottes gestellt und wieder als Kirche genutzt wurde, und dies geschah nochmals in jüngerer Zeit zwischen 1942 und 1951. Im Jahr 1541 heisst es in der Patrizierurkunde:
"Giovanni Antonio Melegnano Bischof von Lodi ..... versöhnt die Kirche, die Altäre und den Friedhof von San Martino di Calonico auf Wunsch und bitten aller Nachbarn von Calonico. Er gewährt auch einen 40-tägigen Ablass für diejenigen, die die oben genannte Kirche am Tag der Versöhnung oder der Einweihung besuchen. ....".
Die Praxis des Ablasses beruht auf der Existenz eines kirchlichen Schatzes, in dem Gnaden aufgrund der von Christus und den Heiligen erworbenen Verdienste angesammelt werden. Die Kirche hat die Möglichkeit, ihren Mitgliedern Gnaden zu erteilen, indem sie Ablässe gewährt, d. h. den Erlass eines Teils oder der gesamten Strafe zur Sühne im irdischen Leben oder im Fegefeuer.
In den Dokumenten des Patrizierarchivs von Calonico wird zwischen 1483 und 1487 ein Streit zwischen dem Pfarrer der Kirche von Chiggiogna und Calonico über die Verwaltung der Seelsorge in der Kirche San Martino erwähnt. Chiggiogna war damals Sitz der Pfarrei, die sich über dasselbe Gebiet wie die Umgebung von Chiggiogna erstreckte und somit die Kapellen von Molare, Rossura und Calonico umfasste (siehe "Geschichte und Archäologie"). Die der Pfarrei Chiggiogna angegliederten Priester, kümmerten sich auch in den Kapellen der drei Dörfer um die Feierlichkeiten, wechselten ihre Aufgaben ab und wohnten teilweise sogar dort. Siehe in der Karte die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Dörfern mit Pfarreien und Dörfern mit Kapellen (Nr. 6 - Chiggiogna, Rossura, Molare, Calonico).
Im Jahr 1483 erhob Calonico Klage gegen einen der Pfarrer von Chiggiogna (Prete Ambrogio), weil er sein Amt in der Kirche San Martino nicht ausübte, und es wurden Zeugen vernommen. Einer von ihnen, der Priester Pietro da Chironico, bestätigte, dass er 40 Jahre zuvor, als er Pfarrer von Chiggiogna war, nach altem Brauch beauftragt worden war, einmal in der Woche und einmal alle drei Sonntage die Messe zu lesen und die Taufe und andere Sakramente zu spenden. Der Streit wurde vom Gericht der «Quindici» (Fünfzehn) von Uri zugunsten von Calonico entschieden, und ordnete Priester Ambrogio an, in Calonico die Messe zu lesen, und den Einwohnern von Calonico dem Priester Ambrogio die Renten zu zahlen, einschliesslich der abgelaufenen. Im Jahr 1486 gab es einen weiteren Streit ähnlicher Art zwischen Chiggiogna und Calonico/Molare/Rossura, die sich weigerten, für die Renovierung der Kirche S. Maria di Chiggiogna zu zahlen, da sie für den Unterhalt ihrer eigenen Kirchen sorgen mussten.
Die Kirche San Martino wurde dann 1594 unter Erzbischof Gasparre Visconti, dem Nachfolger des Heiligen Carlo Borromeo, zur eigenständigen Pfarrei.
Weitere Informationen über die Kirche San Martino finden sich in den Pastoralbesuchen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die vom Heiligen Carlo Borromeo, dem Erzbischof von Mailand, veranlasst wurden (siehe auch "Die Borromeos in Calonico").
Anhand der Berichte der Pastoralbesuche und "Ordinationes" (= nach der Visitation erlassene Dekrete/Anordnungen) konnten die verschiedenen Bauphasen der Martinskirche ungefähr zurückverfolgt werden. Das einzige datierbare Element ist der vom Rest der Kirche abgesetzte Glockenturm aus dem 13. Jahrhunderten. Die ursprüngliche Kirche wurde ab 1600 mehrfach nachgebessert, als Ergebnis der Aktivitäten im Anschluss an den Pastoralbesuchen. Nachfolgend ein Versuch die Berichte der Pastoralbesuche und Dekrete zu lesen.
Berichte der Pastoralvisitationen und Anordnungen ("Decreti"):
Im Jahr 1880 wurden die Inschriften auf den beiden Glocken des Glockenturms gelesen, wobei die eine die Jahreszahl 1566 und die andere 1626 trug. Im Jahr 1908 wurde eine der beiden Glocken zum Neuguss geschickt. Die Verbesserungsaktivitäten der Kirche wurden auch in der Neuzeit mit mehr oder weniger bedeutenden Eingriffen fortgesetzt (siehe unten):
Regionale, 12.07.1983, Dachsanierung
Und das bringt uns zurück zum "Hügel der das gesamte mittlere Tal beherrscht", von dem Alina Borioli in ihrer Legende spricht. Am 23. September 1969 durchstiegen vier Bergsteiger des Club Alpino Italiano (CAI) von Locarno zum ersten Mal die Felswand, die von der Kirche San Martino beherrscht wird.
Regionale, 23.09.1969
Aufgenommen: Paoli De Angelis, Lorenzina de Angelis, Piero Settembrini, Mima De Angelis
Von : 1) Materiali e Documenti Ticinesi (MDT) 2) Registro delle documentazioni, Archivio Patriziato di Calonico (Rascher) 3) Heilige des Tessin, Ernst Schmid 1951, 4) Monumenti storici e documenti d’archivio, Marina Bernasconi Reusser, 5) Atti di San Carlo, P. D’Alessandri, 6) Archivio Ufficio dei beni culturali, Bellinzona, 7) Il governo delle anime, P. Ostinelli, 1998. 8) Liber notitiae sanctorum mediolani, Goffredo da Bussero, fine 1200, 9) Le tre valli svizzere Federico Borromeo, Braghetta, 1977, 10) BSSI, 1880, No 7.